Nach teilweise über 15 Jahren in den sozialen Medien habe ich eine Entscheidung getroffen: Ich ziehe mich aus LinkedIn, XING, Instagram und Facebook zurück. Nicht aus Frust, nicht aus Trotz – sondern weil ich konsequent zu Ende denken möchte, was ich schon lange spüre: Echte Verbindungen entstehen nicht online, sondern im direkten Kontakt.
Die Illusion von Verbundenheit
Soziale Medien versprechen uns Nähe. Sie gaukeln uns vor, dass wir mit hunderten Menschen "verbunden" sind. Dass wir am Leben unserer Freunde teilhaben, wenn wir ihre Posts sehen. Dass ein Kommentar unter einem Foto echte Anteilnahme ist. Aber die Realität sieht anders aus: Wann findet das letzte Mal ein wirkliches Gespräch statt? Nicht ein Kommentar, nicht ein Like – sondern echtes Reden?
Ich sehe perfekt inszenierte Momente aus dem Leben von Menschen, die ich mal kannte. Ich sehe Meinungen zu Themen, die niemanden wirklich weiterbringen. Ich sehe Ego-Shows von Leuten, die sich selbst feiern. Und die Frage ist: Was bringt mir das? Fühle ich mich dadurch näher an den Menschen, die mir wichtig sind? Nein.
Diese Plattformen haben aus Freundschaft ein Spektakel gemacht. Aus echten Momenten wurde Content. Aus Gesprächen wurden Kommentare. Aus Nähe wurde die Illusion von Nähe. Das möchte ich nicht mehr unterstützen.
Zeit für das Wesentliche
Ich habe zwei Kinder. Ich habe eine Familie. Ich habe echte Freunde, die ich seit Jahren kenne und schätze. Und diese Menschen verdienen meine volle Aufmerksamkeit – nicht die Reste meiner Zeit, die nach Social Media übrig bleiben.
Jedes Wochenende ist eine Gelegenheit, echte Zeit mit Freunden zu verbringen. Sie zu besuchen, anzurufen, gemeinsam etwas zu erleben. Nicht ihre Urlaubsfotos zu liken und zu denken, das würde reichen. Denn es reicht nicht.
Die Zeit, die ich für Social Media aufwenden könnte, investiere ich lieber in echte Begegnungen. In Gespräche, die tiefer gehen als 280 Zeichen. In Lachen, das ich wirklich höre, nicht nur als Emoji sehe. In Umarmungen, die ich fühle, nicht nur virtuell verschicke. Das ist es, was zählt.
Die Selbstinszenierungs-Maschinerie
Was mich zunehmend stört, ist diese permanente Selbstinszenierung – im Privaten wie im Geschäftlichen. Niemand postet mehr einfach ein Foto. Es muss die perfekte Pose sein, das perfekte Licht, der perfekte Filter. Niemand teilt mehr einfach einen Gedanken. Es muss Engagement erzeugen, muss die eigene "Personal Brand" stärken.
Selbst private Momente werden zu Content. Der Kindergeburtstag wird inszeniert für Instagram. Der Urlaub wird nicht mehr erlebt, sondern dokumentiert für die Timeline. Das Essen wird nicht mehr genossen, sondern fotografiert für die Story. Menschen leben nicht mehr – sie performen ihr Leben für ein unsichtbares Publikum.
Das ist nicht meine Welt. Ich möchte Momente leben, nicht dokumentieren. Ich möchte präsent sein, nicht performativ. Und ich möchte in meinem Umfeld keine Kultur unterstützen, die genau das Gegenteil fördert.
Freundschaft braucht keine Likes
Ich habe Freunde, die ich seit 20 Jahren kenne. Echte Freundschaften, die durch gemeinsame Erlebnisse, durch Krisen und schöne Momente gewachsen sind. Diese Freundschaften brauchen keine Likes. Sie brauchen Zeit, Aufmerksamkeit, Präsenz.
Sie brauchen Telefonate, die länger als fünf Minuten dauern. Sie brauchen Besuche, bei denen wir uns in die Augen schauen. Sie brauchen Gespräche, in denen wir uns wirklich öffnen – nicht nur die Instagram-Version unseres Lebens präsentieren.
Ich möchte der Freund sein, der anruft, nicht nur kommentiert. Der vorbeikommt, nicht nur liked. Der zuhört, nicht nur scrollt. Und dafür brauche ich keine Social-Media-Plattform – ich brauche nur den Willen, es zu tun.
Die Verblendung durchbrechen
Social Media hat uns verblendet. Wir denken, wir wären informiert, weil wir hunderte Posts pro Tag sehen könnten. Aber wissen wir wirklich, wie es unseren Freunden geht? Wir denken, wir wären sozial aktiv, weil wir online interagieren könnten. Aber wann war das letzte echte Treffen?
Diese Plattformen haben uns vorgegaukelt, dass digitale Präsenz echte Anwesenheit ersetzen kann. Dass ein Herz-Emoji echte Zuneigung ausdrückt. Dass eine Story-Reaktion ein echtes Gespräch ist. Aber das ist alles nur Ersatz. Schlechter Ersatz für das, was wirklich zählt.
Ich möchte in einer Welt leben, in der ich nicht weiß, was jeder gerade macht, aber dafür tiefgehend weiß, wie es den Menschen geht, die mir wichtig sind. Wo ich nicht hunderte oberflächliche Kontakte habe, sondern eine Handvoll echter Freundschaften pflege.
Was sich ändert
Konkret bedeutet das: Ich lösche meine Accounts. Nicht pausieren, nicht deaktivieren – löschen. Weil es eine klare Entscheidung ist, keine halbherzige.
Stattdessen werde ich mehr telefonieren. Einfach so, ohne Grund, einfach um zu hören, wie es meinen Freunden geht. Ich werde mehr spontane Besuche machen. Vorbeischauen mit Zeit für ein echtes Gespräch. Ich werde mehr Briefe schreiben – ja, richtige Briefe, mit der Hand, auf Papier.
Ich werde noch präsenter für meine Kinder sein. Wenn wir spielen, spielen wir – vollständig. Wenn wir essen, genießen wir die gemeinsame Zeit. Wenn wir zusammen sind, sind wir wirklich zusammen, nicht nur körperlich anwesend.
Ich werde mehr in der Natur sein, sie erleben statt dokumentieren. Mehr lesen, mehr denken, mehr fühlen. Ich werde mein Leben leben, nicht kuratieren.
Keine Angst vor dem Verpassen
Ja, ich werde Dinge verpassen. Ich werde nicht sehen, wenn jemand ein neues Profilbild hat. Ich werde nicht wissen, was meine ehemaligen Klassenkameraden gerade machen. Ich werde nicht mitbekommen, welche Diskussionen gerade in irgendeiner Bubble toben.
Aber das ist völlig in Ordnung. Diese Dinge haben noch nie mein Leben bereichert. Sie haben mich nicht glücklicher gemacht. Sie haben mich nicht erfüllter gemacht. Sie sind schlicht irrelevant für das, was wirklich zählt.
Was wirklich zählt: Die Zeit mit meiner Familie. Die Gespräche mit meinen Freunden. Die Momente, in denen ich vollkommen präsent bin. Das echte Leben.
Wie ihr mich erreicht
Das bedeutet nicht, dass ich unerreichbar werde. Im Gegenteil – ich werde erreichbarer sein. Nur eben auf echten Wegen:
Ruft mich an. Meine Nummer haben meine Freunde. Ein Anruf ist mehr wert als hundert Likes.
Schreibt mir eine E-Mail. Ich nehme mir Zeit für ausführliche Antworten, für echten Austausch.
Kommt vorbei. Meine Tür ist offen für Freunde, die Zeit und Lust auf ein echtes Gespräch haben.
Das sind die Kanäle für Menschen, die mir wichtig sind. Für echte Freundschaften, nicht für digitale Bekanntschaften.
Die Rückkehr zur Menschlichkeit
Diese Entscheidung ist meine Rückkehr zur Menschlichkeit. Zu echten Beziehungen. Zu wirklicher Präsenz. Zu einem Leben, das sich richtig anfühlt.
Ich möchte nicht Teil einer Welt sein, in der Freundschaft an der Anzahl gemeinsamer Fotos gemessen wird. In der Zuneigung in Likes quantifiziert wird. In der Beziehungen durch Algorithmen definiert werden.
Ich sehne mich nach Zeiten, in denen wir noch bei Freunden geklingelt haben, ohne vorher zu texten. Als wir stundenlang geredet haben, ohne aufs Handy zu schauen. Als Fotos in Alben kamen, nicht in Clouds. Als Erinnerungen im Herzen waren, nicht auf Servern.
Meine Kinder sollen erleben, dass ihr Vater präsent ist. Dass er Zeit hat, wenn sie ihn brauchen. Dass er lebt, nicht nur dokumentiert. Das ist das Vorbild, das ich sein möchte. Und dafür brauche ich keine Social-Media-Accounts.
Der Bullshit-Bingo-Faktor
Seien wir ehrlich: Social Media ist zum Bullshit-Bingo verkommen. Jeder zweite Post besteht aus Phrasen, die nichts bedeuten. "So grateful for this journey!" – "Living my best life!" – "Hustle harder!" – "Blessed and grateful!"
Es ist eine endlose Show aus Ego-Polieren und Selbstbeweihräucherung. Jeder inszeniert sich als erfolgreicher, glücklicher, erfüllter als er ist. Und alle spielen mit, weil der soziale Druck es verlangt. Das ist nicht authentisch. Das ist Theater.
Ich habe keine Lust mehr auf dieses Spiel. Ich habe keine Lust mehr, durch diesen Strom aus Fake-Perfektion zu scrollen. Ich habe keine Lust mehr auf diese falsche, verblendete Welt, in der niemand mehr ehrlich ist, weil Ehrlichkeit nicht genug Likes generiert.
Zurück zur Ehrlichkeit
Einer meiner Kernwerte ist Ehrlichkeit. "Ich bin immer ehrlich, auch wenn die Wahrheit manchmal bitter ist." Das gilt auch für mein Privatleben. Und ehrlich gesagt: Social Media fördert nicht Ehrlichkeit, sondern Selbstinszenierung.
Menschen teilen nicht, wie es ihnen wirklich geht. Sie teilen, wie sie wirken wollen. Sie zeigen nicht ihr Leben, sondern eine kuratierte Version davon. Und je länger man in diesem System ist, desto mehr verliert man den Bezug zur Realität.
Ich möchte wieder in einer Welt leben, in der Menschen ehrlich zueinander sind. Wo Freunde sagen können "Mir geht es scheiße" ohne es in drei Ebenen Ironie zu verpacken. Wo Erfolge und Misserfolge gleichermaßen Platz haben. Wo niemand performen muss, um dazuzugehören.
Fazit
Diese Entscheidung ist keine Rebellion gegen Technologie. Ich arbeite jeden Tag mit digitalen Tools, entwickle Websites, optimiere Online-Präsenzen. Aber es ist eine bewusste Entscheidung gegen die Art, wie Social Media unser Privatleben kolonisiert und verfälscht hat.
Ich möchte meine Zeit für das Wesentliche nutzen. Für echte Gespräche. Für wahre Freundschaften. Für präsente Momente mit meiner Familie. Für ein Leben, das authentisch ist, nicht inszeniert.
Wer mein Freund ist, wird Wege finden, mit mir in Kontakt zu bleiben – echten Kontakt. Wer mir wichtig ist, bekommt meine Zeit – echte, ungefilterte, präsente Zeit. Und wer nur einen weiteren Social-Media-Kontakt verliert, war vielleicht nie wirklich ein Freund.
Ich freue mich auf die Konsequenz dieser Entscheidung. Auf lange Telefonate. Auf spontane Besuche. Auf echtes Lachen, echte Gespräche, echte Nähe. Auf ein Leben, das ich lebe – nicht eines, das ich dokumentiere.
Bis bald – aber nicht auf Social Media. Sondern im echten Leben, wo wir uns in die Augen schauen können.